Die Bricolage um Myawaddy, Teil III: Karte und Gebiet


Die theoretischen Grundlagen China Views als Karte & der Topologie der Gesellschaft als Supermarkt werden irgendwann aufbauend auf dieser Bricolage* als Essay elaboriert.
*Persilflage auf Lämmergeier

„Der Bricoleur hingegen, auf den Lévi-Strauss anspielt, ist derjenige, der sein Werk immer mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und Materialien gestaltet. Er macht Gebrauch von „dem, was zur Hand ist“, nämlich den Resten und Fragmenten vergangener Werke und Strukturen.“
(Derrida)

Die Logik des Supermarktes führt zwangsläufig zu einer Streuung des Verlangens.“
(Michel Houellebecq: Die Welt als Supermarkt)

Chinese View

Jed zeigte keinerlei Reaktion, als Olga nach einem letzten Kuss auf die Passkontrolle zuging, und erst als er wieder in seiner Wohnung am Boulevard de L’Hôpital war, begriff er, dass er, fast ohne es zu merken, in einen neuen Lebensabschnitt eingetreten war. Er merkte es daran, dass ihm alles, was noch vor wenige Wochen seine Welt ausgemacht hatte, mit einem Schlag völlig hohl vorkam. Straßenkarten und Fotoauszüge übersäten zu Hunderten den Boden, aber all das hatte für ihn absolut keinen Sinn mehr. Resigniert verließ er das Haus, kaufte im Casino-Supermarkt am Boulevard Vincent-Auriol zwei Roller fester Plasticksäckchen für „Bauschutt“[…]Für die Realisierung der Gemälde der Serie einfacher Berufe brauchte Jed Martin etwas über sieben Jahre. In dieser Zeit sah er kaum jemanden und knüpfte keine neuen Beziehungen – weder Liebesbeziehungen noch freundschaftlicher Art.

„Das Wesen der Dinge wird verdrängt vom Schaubild ihrer Variationen. Die modernen Orte, vielseitig nutzbar und neutral, passen sich der unendlichen Anzahl von Botschaften an, denen sie als Träger dienen müssen.“
(Michel Houellebecq: Die Welt als Supermarkt)
L’infrastructure est apparemment importante des deux côtés de la frontière avant les zones économiques spéciales.

China View est plus importante que le territoire?

Der Eingang zur Aussellung war halb von einer großen Tafel versperrt, die zu beiden Seiten einen Durchgang von zwei Metern Breite freiließ und auf der nebeneinander ein Satellitenfoto von der Umgebung des Großen Belchen und die Vergrößerung einer Michelin-Departmentalkarte vom selben Gebiet zu sehen waren. Der Kontrast war frappierend: Während auf dem Satellitenfoto nur eine Suppe aus mit verschwommenen bläulichen Flecken übersäten, mehr oder weniger einheitlichen Grüntönen zu erkennen war, zeigte die Karte ein faszinierendes Netz von Landstraßen, landschaftlich schönen Strecken, Aussichtspunkten, Wäldern, Seen und Pässen. Über den beiden Fotos stand in schwarzen Lettern der Titel der Ausstellung:
DIE KARTE IST INTERESSANTER ALS DAS GEBIET.

Auf die Bitte seines Vaters hin, der unterdessen tankte, kaufte Jed eine Straßenkarte von Creuse und Haute-Vienne aus der Reihe Departementalkarten von Michelin. Und als er dort, ein paar Schritte von den in Zellophan gehüllten Sandwiches entfernt, seine Karte auseinanderfaltete, wurde ihm seine zweite große ästhetische Offenbarung zuteil. Diese Karte war geradezu erhaben; bis ins Innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer zu zittern. Noch nie hatte er etwas so Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departments Creuse und Haute Vienne im Maßstab 1:150 000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz des animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die anderen zum ewigen Leben berufen waren.

„In that Empire, the Art of Cartography attained such Perfection that the map of a single Province occupied the entirety of a City, and the map of the Empire, the entirety of a Province.”
(Jorge Luis Borges)

„The simulacrum is never what hides the truth – it is truth that hides the fact that there is none. The simulacrum is true.-Ecclesiastes.
If once we were able to view the Borges fable in which the cartographers of the Empire draw up a map so detailed that it ends up covering the territory exactly (the decline of the Empire witnesses the fraying of this map, little by little, and its fall into ruins, though some shreds are still discernible in the deserts – the metaphysical beauty of this ruined abstraction testifying to a pride equal to the Empire and rotting like a carcass, returning to the substance of the soil, a bit as the double ends by being confused with the real through aging)
– as the most beautiful allegory of simulation, this fable has now come full circle for us, and possesses nothing but the discrete charm of second-order simulacra. Today abstraction is no longer that of the map, the double, the mirror, or the concept. Simulation is no longer that of a territory, a referential being, or a substance. It is the generation by models of a real without origin or reality: a hyperreal. The territory no longer precedes the map, nor does it survive it. It is nevertheless the map that precedes the territory – precession of simulacra – that engenders the territory, and if one must return to the fable, today it is the territory whose shreds slowly rot across the extent of the map. It is the real, and not the map, whose vestiges persist here and there in the deserts that are no longer those of the Empire, but ours. The desert of the real itself. In fact, even inverted, Borges’s fable is unusable. Only the allegory of the Empire, perhaps, remains. Because it is with this same imperialism that present-day simulators attempt to make the real, all of the real, coincide with their models of simulation. But it is no longer a question of either maps or territories. Something has disappeared: the sovereign difference, between one and the other, that constituted the charm of abstraction. Because it is difference that constitutes the poetry of the map and the charm of the territory [DIE KARTE IST DAS GEBIET], the magic of the concept and the charm of the real. This imaginary of representation, which simultaneously culminates in and is engulfed by the cartographers mad project of the ideal coextensivity of map and territory, disappears in the simulation whose operation is nuclear and genetic, no longer at all specular or discursive. It is all of metaphysics that is lost. No more mirror of being and appearances, of the real and its concept. No more imaginary coextensivity: it is genetic miniaturization that is the dimension of simulation. The real is produced from miniaturized cells, matrices, and memory banks, models of control – and it can be reproduced an indefinite number of times from these. It no longer needs to be rational, because it no longer measures itself against either an ideal or negative instance. It is no longer anything but operational. In fact, it is no longer really the real, because no imaginary envelops it anymore. It is a hyperreal, produced from a radiating synthesis of combinatory models in a hyperspace without atmosphere.“
(Baudrillard: Simulakra & Simulation)

„Das Spektakel ist die Landkarte dieser neuen Welt, eine Landkarte, die genau ihr Territorium deckt. Eben die Kräfte, die uns entgangen sind, zeigen sich uns in ihrer ganzen Macht.“
(Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels)

„The following Generations, who were not so fond of the Study of Cartography as their Forebears had been, saw that that vast Map was Useless [f.e. Baudrillard], and not without some Pitilessness was it, that they delivered it up to the Inclemencies of Sun and Winters.”
(Jorge Luis Borges)

À Paris l’air ambiantest comme saturé d’information, on aperçoitqu’on le veuille ou non les titres dans leskiosques, on entend les conversations dans laqueue des supermarchés. Lorsqu’il s’était rendudans la Creuse pour l’enterrement de sa grand-mère, il s’était rendu compte que la densité atmosphérique d’information diminuait nettement àmesure que l’on s’éloignait de la capitale ; et queplus généralement les choses humaines perdaientde leur importance, peu à peu tout disparaissait, hormis les plantes:

Śūnyatā

„In seiner Totalität begriffen, ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise. Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. Es ist das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen Formen: Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens.“
(Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels)

Eine Plattform ist auch bloß ein Plateau

Der Liberalismus schuf also eine neue Geographie der Welt aufgrund der Erwartung der Kundschaft, egal ob diese reiste, um ihre touristische Neugier zu befriedigen oder um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die ebene, isometrische Oberfläche der Weltkarte wurde durch eine anomale Topographie ersetzt, bei der Shannon in größere Nähe zu Katowitz oder Fuerteventura rückte als zu Brüssel oder Madrid. Die beiden Flughäfe, die Ryanair in Frankreich anflog, waren Beauvais und Carcassone. Handelt es sich dabei um Bestimmungsorte von besonderem touristischen Interesse? Oder wurden sie nur aus dem Grund touristisch interessant, weil Ryanair die beiden Städte als Zielflughäfen gewählt hatte? Während Jed noch über die Macht der Topologie der Welt nachdachte, nickte er leicht ein.


„The „form“ hypermarket can thus help us understand what is meant by the end of modernity.“ (Baudrillard)
Vom Altern des „Panoptikums“ (Foucault). Die Topologie der Gesellschaft als Supermarkt. Sie gleicht als Labyrinth eher dem kontrollierten & kontrollierenden Aufbau (Anordnung) eines deutschen Supermarktes:
„Die Exzentrizität von Zirkus, Panoptikum und Bordell zur Gesellschaft ist ihr so peinlich wie die von Schönberg und Karl Kraus.“ (Adorno/Horkheimer vor F.)

„Dies ist kein Ausgang.“

Michel 332 musste sich einmal an allen Waren vorbei arbeiten und am Ende erwartete ihn an der Self-Checkout Kasse lediglich die Rechnung für einen Pressholzsarg, die Michel 333 (manchmal auch 332), ob der Kameras, natürlich begleichen musste:

C.R.E.A.M.

Seine Freizeit verbringt er damit, Unterhaltungssendungen im Fernsehen und Peepshows anzuschauen bzw. die Dienste von Prostituierten in Anspruch zu nehmen:
„Die Abhängigkeit der mächtigsten Sendegesellschaft von der Elektroindustrie, oder die des Films von den Banken, charakterisiert die ganze Sphäre, deren einzelne Branchen wiederum untereinander ökonomisch verfilzt sind. Alles liegt so nahe beieinander, daß die Konzentration des Geistes ein Volumen erreicht, das es ihr erlaubt, über die Demarkationslinie der Firmentitel und technischen Sparten hinwegzurollen. Die rücksichtslose Einheit der Kulturindustriebezeugt die heraufziehende der Politik. Emphatische Differenzierungen wie die von A- und B-Filmen oder von Geschichten in Magazinen verschiedener Preislagen gehen nicht sowohl aus der Sache hervor, als daß sie der Klassifikation, Organisation und Erfassung der Konsumenten dienen.

Quelle: Usip

Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert. Die Belieferung des Publikums mit einer Hierarchie von Serienqualitäten dient nur der umso lückenloseren Quantifizierung. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten »level« gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist.

My bet – so bin ich halt.

Die Konsumenten werden als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder, aufgeteilt.[…]Der Hausfrau gewährt das Dunkel des Kinos trotz der Filme, die sie weiter integrieren sollen, ein Asyl, wo sie ein paar Stunden unkontrolliert dabeisitzen kann, wie sie einmal, als es noch Wohnungen und Feierabend gab, zum Fenster hinausblickte.“
(Adorno: Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug)

Chinese View:
„Geboten wird nicht Italien, sondern der Augenschein, daß es existiert.“ (Adorno/Horkheimer, vor B.)

Als sein ungeliebter Vater bei einem Streit von einem Muslim erschlagen wird, weil er mit dessen Schwester, die seine Haushälterin war, ein Verhältnis hatte, gibt sich Michel nur für einen Moment dem Gedanken der Blutrache hin. Er erbt eine nicht unbeträchtliche Summe sowie Haus und Auto seines Vaters und fliegt mit einer Reisegruppe nach Thailand, um sich – dem Rat seiner Kollegin Marie-Jeanne folgend – bei einer Rundreise zu erholen.

Fun ist ein Stahlbad.

Ich habe keine Hobbies.

Clement.Dargent@prs-invivo-group.com

Dort verkehrt er ebenfalls mit Prostituierten – und berichtet seinen Mitreisenden in erstaunlicher Offenheit davon. Zwar beginnt er auch, sich für die 27-jährige Französin Valérie zu interessieren, kann jedoch keine Kontakte mit ihr oder seinen anderen Mitreisenden knüpfen, da er sich von seinen Mitmenschen schon stark entfremdet hat und unter Bindungsängsten leidet.

Mein Plateau

„Der Wechsel auf die Lust, den Handlung und Aufmachung ausstellen, wird endlos prolongiert: hämisch bedeutet das Versprechen, in dem die Schau eigentlich nur besteht, daß es zur Sache nicht kommt, daß der Gast an der Lektüre der Menükarte sein Genügen finden soll.“
(Adorno/Horkheimer: Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug)

Menükarte linksunten:

Die Karte:

Advertisement oder Reklame, Quelle: Usip/China View

Le Territoire:

Simulation

>>Bist du in der Galerie gewesen<<, fragte er, um das Gespräch auf neutralem Gebiet zu beginnen und wunderte sich dann, dass sein malerisches Werk in seinen eigenen Augen zu einem neutralen Gebiet geworden war.

Zwei leere Stühle.

Et si je n’ai pas compris l’amour, à quoi me sert d’avoir compris le reste?


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert